Was Meditation zur Förderung der Tugend für das 21. Jahrhundert beiträgt
Empathie ist die Tugend des 21. Jahrhunderts!
Das sagt mindestens der Philosoph und Schriftsteller Alain de Botton. Er hat einen "Tugendkatalog für das moderne Leben" veröffentlicht und Empathie steht an zweiter stelle nach Resilienz. Empathie ist demnach die Fähigkeit
"durch Vorstellungskraft mit dem Leiden und den einzigartigen Erfahrungen anderer in Verbindung zu treten. Der Mut, jemand anderer zu werden und auf sich selbst ehrlich zurückzublicken".
Tugenden: Ausrüstung für das Leben
Das Wort «Tugend» ist abgeleitet von taugen. Es geht also um die Frage nach der «Tauglichkeit» einer Person. Diese Tauglichkeit wird u.a. vom und durch den Kontext bestimmt. Massstab für die Tugend ist, ob man lebenstauglich ist in den sozialen Bezügen. Jede Generation ist daher neu zu Klärung herausgefordert, welche Eigenschaften eine Person «tauglich» machen. Auch wenn das Wort «Tugend» in unseren Ohren etwas angestaubt klingen mag, so ist der Begriff inhaltlich also höchst aktuell.
Tugenden sind «Ausrüstung für das Leben» (Stanley Hauerwas) und betreffen die Frage, wie wir unser Leben als Individuen, im sozialen Umfeld und als Teil der Gesellschaft gestalten. Tugenden werden kultiviert und gebildet.
Tugenden sind Charakterstärken, die dazu beitragen, dass der Mensch zum voll aufblühenden Menschen wird.
Empathie als Tugend
De Botton ist nicht der Einzige, der Empathie als Tugend für das 21. Jh. betont. Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong meinte bereits vor bald 15 Jahren gegenüber religiösen Menschen:
"Mitgefühl ist keine populäre Tugend: Oft ist es den Frommen wichtiger, im Recht zu sein. Aber gerade Mitgefühl wäre das Glaubensbekenntnis der Stunde in unserer polarisierten Welt."
Und aus Perspektive der protestantischen Theologe machte sich der Theologe Jörg Zink für die Empathie als Tugend stark:
"Das Mitgefühl wird eine der Tugenden der Zukunft sein. Es war sie immer, aber es wird sie in einer Unentbehrlichkeit werden, von der wir bislang kaum eine Ahnung besitzen. Das gemeinsame Leben von Mensch und Erde wird davon abhängen, ob dieses Mitgefühl unser Denken und Tun bestimmen wird oder nicht."
Zink nennt dann auch gleich die dazugehörigen Praktiken von Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Rücksicht, Behutsamkeit, die Fähigkeit, eigene Interessen zurückzustellen, Liebe zu allem, Ehrfurcht vor dem Wehrlosen, dem Schwachen. Zink sieht im Mitgefühl «den Ausgangspunkt für jeden sozialen Wandel» und die Grundlage zur Versöhnung der Beziehungen des Menschen zu sich selbst und gegenüber seinen Mitmenschen.
Nun wird in der neueren Wissenschaft unterschieden zwischen Empathie und Mitgefühl resp. Fürsorge. Einfach erklärt meint Empathie das "Leiden mit", eine emotionale Resonanz, während Mitgefühl die "Sorge um" betrifft. Empathie meint eine Verbindung des Menschen mit den Emotionen seines Gegenübers. Fürsorge meint stärker von Empathie und innerer liebender Güte motiviertes Handeln im Sinne eines Altruismus. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer erklärt in diesem kurzen Podcast den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl, der sich aus umfangreicher Forschung ergeben hat. Singer resümiert:
"Mitgefühl ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit."
Meditation als Training für Empathie
Ziele der Achtsamkeitsmeditation sind sowohl das Trainieren von Empathie wie auch Mitgefühl und liebender Güte. Die Meditationslehrerin Sharon Salzberg fasst dies in aller Kürze zusammen:
"Durch die kontinuierliche Kultivierung von Achtsamkeit erkennen wir die Gewohnheit des Anhaftens, der Ablehnung und der Täuschung, und wir lernen, frei davon zu sein. Die Freiheit ist der Boden, aus dem eine viel umfassendere Liebende Güte für uns selbst und andere erwachsen kann."
Indem wir uns in der Zeit der Meditation also geduldig und liebevoll mit dem auseinandersetzen, was in uns aufsteigt, lernen wir gleichzeitig, diese Haltung auf die Beziehung zu unserem Gegenüber zu übertragen.
Christliche Meditation als mehrdimensionales Training
Christliche Meditation, wie wir sie bei Netzkloster praktizieren, geht von diesen Grundannahmen aus, wie sie in der Achtsamkeitspraxis- und Forschung dargestellt werden. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied.
Die oben beschriebene Haltung von Fürsorge, Mitgefühl und Empathie betrifft Beziehungen auf der horizontalen Ebene, also zwischen mir und meinen Mitmenschen sowie der Schöpfung. Christliche Meditation erweitert diese wichtige Ebene um die Vertikale des Menschen zu Gott.
Wenn wir in christlicher Tradition meditieren, dann immer in der Haltung des Menschen, der eine Zeit der stillen Aufmerksamkeit in der Gegenwart Gottes verbringt. Dabei orientieren wir uns am Rabbi und Meister Jesus Christus, von dem wir lernen können, was Empathie und Mitgefühl gegenüber Menschen bei gleichzeitigem Ruhen in der von Gott geschenkten Gelassenheit bedeutet kann (z.B. Mk 6,34 u.ö.).
Aus der Kraft der von Gott geschenkten Liebe und in der Auseinandersetzung mit uns selbst werden wir fähig zu Empathie und Mitgefühl. So mündet die Meditationspraxis letztlich im Doppelgebot der Liebe, auf das sich gemäss Rabbi Jesus alles reduzieren lässt, was immer Theologie, Kirche und Tradition hervorgebracht haben:
"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe, mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand. Und auch deinen Mitmenschen sollst du so lieben wie dich selbst." (Lk 10,27)
Diese göttliche Liebe zu empfangen, zu (er-) leben und weiterzugeben Liebe ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.